„We’re better than this“: Rassismus und der Australische Traum

Von | 23. März 2018

Als ich 1963 geboren wurde, wurde ich zur Flora und Fauna gezählt, nicht zu den Bürgern dieses Landes.

Unbeachtet von den hiesigen Medien hat zu Jahresbeginn 2016 am anderen Ende der Welt eine kurze, nur 8-minütige Rede über den Rassismus in Australien hohe Wellen geschlagen. Innerhalb weniger Tage nach Veröffentlichung des Videos war es schon hunderttausendfach angeklickt worden – englischsprachige Medien sahen in dem Ereignis Australiens „Martin Luther King Moment“ – in Anlehnung an die berühmte „I-have-a-dream“-Rede des amerikanischen Bürgerrechtlers von 1963.

Der diese Rede gehalten hat, Stan Grant, ist ein bekannter Journalist und Anchorman des australischen Fernsehsenders ABC, so etwas wie ein australischer Hanns Joachim Friedrichs.

Meine Leute sterben jung in diesem Land. Wir sterben zehn Jahre früher als die durchschnittlichen Australier und wir sind weit davon entfernt, frei zu sein. Wir sind weniger als drei Prozent der australischen Bevölkerung, und doch stellen wir 25 Prozent, ein Viertel jener Australier, die in unseren Gefängnissen weggesperrt sind. Und wenn Sie ein Jugendlicher sind, ist es noch schlimmer, dort sind es 50 Prozent. Für ein indigenes Kind ist es wahrscheinlicher, im Gefängnis weggesperrt zu werden, als die High School zu beenden.

Die Umstände, unter denen diese Rede zustande kam, sind einem deutschen Publikum allerdings nicht leicht zu erklären. Im englischsprachigen Raum haben sich seriöse öffentliche Debattenformate erhalten, von denen man als deutscher Fernsehkonsument nur träumen kann. Sie sind nicht vergleichbar mit den unsäglichen Talkshows hierzulande und ihrer Unkultur des penetranten Durcheinander-Geplappers. Noch weniger mit der Modeerscheinung des Pecha Kucha, dem überaus beliebten, weil radikal rückstandslosen Bling-Bling im 20-Sekunden-Takt. Ihr Ziel ist vielmehr die angestrengte und disziplinierte Auseinandersetzung mit einem gegebenen Thema. Die Debatte, in deren Rahmen Stan Grant diese Rede hielt, wurde vom Ethics Center veranstaltet, einer australischen gemeinnützigen Organisation, die sich einer Kultur ethisch fundierter Entscheidungsfindung verschrieben hat. Und der Form nach wurde das IQ²-Format angelegt, ein Debattenformat im altehrwürdigen Oxford-Debattenstil. (Es ist übrigens bezeichnend und keineswegs zufällig, dass die Stichworte einer derartigen Debattenkultur der deutschsprachigen Wikipedia vollkommen unbekannt sind).

Im Mittelpunkt des IQ²-Formats steht eine (bisweilen provokative) thematische Aussage, der man zustimmen oder die man ablehnen kann. In diesem Fall lautete das Thema: „Rassismus zerstört den Australischen Traum“. Vier Protagonisten – immer zwei zustimmend, zwei ablehnend – sitzen auf dem Podium, nur zur Überleitung kommt kurz ein Moderator auf die Bühne und macht sich gleich wieder unsichtbar. Eine solche Debatte besteht nun aus vier Blöcken: Zunächst halten alle Podiumsteilnehmer ungestörte (!) Eröffnungsstatements. Darauf folgt eine Antwort- und Diskussionsrunde der Protagonisten. Im dritten Teil kann sich das Publikum äußern, Abschluss-Statements beenden die Debatte. Vor Beginn und nach Ende der Debatte wird das Publikum gebeten, über die Fragestellung des Themas abzustimmen – als Gradmesser für die Überzeugungskraft der vorgebrachten Argumente. Es sind intensive, aber unaufgeregte Debatten, gewöhnlich mit Tiefgang. Nichts, was wir in Deutschland kennen…

Mein Urgroßvater, der eingesperrt wurde, weil er in seiner Sprache mit seinem Enkel (meinem Vater) gesprochen hatte. Ins Gefängnis gesperrt, dafür! Mein Großvater mütterlicherseits, der eine weiße Frau, die nach Australien gekommen war, geheiratet hatte, lebte am Stadtrand, bis eines Tages die Polizei kam, ihm die Waffe an den Kopf hielt, mit einem Bulldozer seine Blechhütte niederwalzte und über die Gräber seiner drei Kinder, die er hier begraben hatte, hinwegfuhr. Das ist der Australische Traum.

Die Rede, die das australische Publikum aufgewühlt hat, war Stan Grants Eröffnungsrede. Grant ist einer der wenigen Aborigines, denen es gelungen ist, in der weißen Gesellschaft Australiens Karriere zu machen. In freier Rede hielt er seinen Landsleuten eindringlich den Spiegel vor. Australien sei tief verwurzelt im Rassismus, der Rassismus sei geradezu der Gründungsmodus des australischen Staats gewesen. Er beschreibt am Beispiel seiner eigenen Familie die jahrhundertelange Entrechtung der indigenen Bevölkerung. Selbstverständlich zerstöre der Rassismus den „Australischen Traum“ – das sei offensichtlich.

Vielleicht hören Sie heute Abend ja auch „Aber Du hast weißes Blut in Dir“. Doch wenn dieses weiße Blut in mir, meine Großmutter, heute Abend hier wäre, würde sie Ihnen davon erzählen, wie sie von einem  Krankenhaus abgewiesen wurde, als sie ihr erstes Kind bekam, weil sie dabei war, das Kind einer schwarzen Person zu gebären.

Der Australische Traum.

Wir sind besser als das.

Grund genug, die Rede zu dokumentieren und eine kommentierte Übersetzung mitzuliefern:

 

 

Die lange (allerdings immer noch gekürzte) Fassung der Diskussion des Abends ist auf der Seite des Ethics Center veröffentlicht.

 


 

Was Grant beschreibt, ist keineswegs nur ein Relikt vergangener Zeiten. Institutionalisierter Rassismus prägt Australien vielmehr bis heute. Für diejenigen, die mehr über dieses Thema erfahren möchten und die englischsprachige Lektüre nicht scheuen, hier noch einige ausgewählte Lesetips:

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