Wir dokumentieren im Folgenden eine Vorlesungsreihe über die Geschichte Ukraines, die der amerikanische Osteuropa-Historiker Timothy Snyder im Herbstsemester 2022 an der Yale University gehalten hat.
Timothy Snyder ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Yale University und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen Wien. Er spricht 5 Sprachen fließend, darunter Ukrainisch, und liest in einem Dutzend Sprachen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Osteuropäische Geschichte, Holocaust, Geschichte der Sowjetunion und Ukraines. Snyder ist u.a. Autor der Bücher Bloodlands – Europa zwischen Hitler und Stalin 1933-1945, Black Earth – Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann, Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika, Über Tyrannei – Zwanzig Lektionen für den Widerstand und The Red Prince – The Fall of a Dynasty and the Rise of Modern Europe. Er veröffentlicht regelmäßig aktuelle Beiträge zum Zeitgeschenen auf seinem Blog https://snyder.substack.com/.
Geschichtsmythen spielen eine entscheidende Rolle im russisch-ukrainische Krieg. So wird er begründet auf allen russischen Kanälen, Putin selbst greift, in Anlehnung an faschistische Vordenker, bis ins Jahr 988 zurück, um zu begründen, weshalb die Existenz Ukraines das entscheidende Hindernis auf dem Weg zur ewigen „Bestimmtheit“ der unschuldigen russischen Nation sei. Im deutschen Bewusstsein hingegen ist Osteuropa oft nur als unbestimmter Raum zwischen uns und „unserem Nachbar Russland“ präsent. Was wissen wir eigentlich über die Geschichte Ukraines? Selbst diejenigen, die die russische Invasion als das Verbrechen benennen, das sie ist, scheinen seltsam hilflos gegenüber der russischen Behauptung, im Grunde seien die Ukrainer ja eigentlich Russen, die das nur nicht wahrhaben wollten, weil sie vom Nationalismus verführt seien, es handle sich um „ein Volk“ oder doch wenigstens um „Brudervölker“ – weshalb die Okkupanten, wie kürzlich ein Donezker Warlord im russischen Fernsehen mit größter Selbstverständlichkeit verkündete, auch „eine Million oder 5 Millionen [Ukrainer] töten“ oder gar „alle auslöschen“ könnten, solange die dies in ihrer verblendeten Halsstarrigkeit nicht einsähen. Wir wissbegierigen deutschen Beobachter, von allem Wissen der Welt nur einen Mausklick entfernt, sind – dessen sind wir uns auch ganz gewiss – so umfassend informiert, dass wir in der Regel doch nicht einmal die ukrainische Geschichte des 20. Jahrhunderts auch nur in groben Umrissen skizzieren könnten. Grotesker könnte der Kontrast zwischen unserem Selbstbild und unserer Ahnungslosigkeit kaum ausfallen. Diese Ahnungslosigkeit schlägt sich sogar in unserer Sprache nieder. Wir reden mit aller Selbstverständlichkeit über Länder wie „Polen“ oder „Frankreich„, unser Sprachgefühl verbietet uns, über „das Irland“ zu sprechen. Aber wir reden genauso selbstverständlich über „die Ukraine„. Der Artikel verweist auf unsere Wahrnehmung Ukraines als Raum, historisch als potentielle Beute, als Terra Nullius, nicht als politische Entität, Staatsgebilde, Gesellschaft. Wir nennen die Hauptstadt „der“ Ukraine „Kiew“ – und benutzen dafür wie selbstverständlich die russische Schreibweise – nicht „Kyiv“ oder „Kyjiw„, was der ukrainischen Schreibweise entspräche. In unserer Sprache überwintert damit bis heute unbewusst der koloniale Blick, Ausdruck einer wenig hinterfragten Erbschaft. Wir sind weit davon entfernt, das zu reflektieren, oder auch nur zu bemerken. Das macht den Wert dieser Vorlesungsreihe aus: Sie öffnet uns den Blick auf eine Europäische Geschichte, die wir nie zur Kenntnis genommen haben.
Questions: What brought about the Ukrainian nation? Ukraine must have existed as a society and polity on 23 February 2022, else Ukrainians would not have collectively resisted Russian invasion the next day. Why has the existence of Ukraine occasioned such controversy? In what ways are Polish, Russian, and Jewish self-understanding dependent upon experiences in Ukraine? Just how and when did a modern Ukrainian nation emerge? Just how for that matter does any modern nation emerge? And why some nations and not others? What is the balance between structure and agency in history? Can nations be chosen, and does it matter? Can the choices of individuals influence the rise of much larger social organizations? If so, how? Ukraine was the country most touched by Soviet and Nazi terror: what can we learn about those systems, then, from Ukraine? Is the post-colonial, multilingual Ukrainian nation a holdover from the past, or does it hold some promise for the future? Topics: Often the most important historical factors are the ones that are most difficult to see. Ukraine tends to exemplify the major trends in European and world history, but sometimes in a form so radical that they escape notice and classification. Ukraine provides an early example of European state formation and an early example of anti-colonial rebellion. We will begin with brief reflections on ancient history and geography, and cover the middle ages and the early modern period, but will concentrate upon the nineteenth and the twentieth centuries, and will conclude with the current war. Topics there include the Kyiv state, early modern Lithuania, and Poland during the age of discovery. Ukraine also provides an intense example of the confrontation between modern national politics and extreme colonial alternatives from the far right and far left. Modern topics therefore include Russian and Austrian empires; Jewish and Polish urban society; Romanticism and modern nationalism; the Bolshevik Revolution and its Ukrainian counterparts; Soviet modernization and terror; Nazi occupation and the Holocaust; and ethnic cleansing. Finally, contemporary Ukrainian history poses in striking form the question of the functionality and durability of the post-imperial state. The last few topics are thus: the late Soviet Union; problems of post-Soviet rule, the Orange Revolution and Maidan and the war of 2014; and the present war. Source: https://snyder.substack.com/p/syllabus-of-my-ukraine-lecture-class
Es kann hilfreich sein, die Untertitel einzublenden. Die englischen Untertitel sind wortgetreu transkribiert. Sie können sie über diesen Button ein- und ausschalten: Sie können die Untertitel auch als pdf-Datei downloaden. Davon sind wiederum Übersetzungen ins Deutsche verfügbar – hierbei handelt es sich aber lediglich um automatische, nicht bearbeitete, Übersetzungen. Die sind zwar erstaunlich gut, leiden aber grundsätzlich darunter, die kontextuelle Bedeutung mehrdeutiger Begriffe nicht erfassen zu können. Dann kommt bisweilen Unsinn heraus – beispielsweise wenn der Begriff „survey lecture“ statt als „Überblicks-Vorlesung“ als „Umfrage-Vortrag“ übersetzt wird… Dennoch kann auch die mangelhafte deutsche Übersetzung hilfreich für das Verständnis sein – nur sollten Sie gewahr sein, nicht alles wörtlich nehmen zu können.
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Readings: Download Untertitel: Englisch / Deutsch (Autom. Übers.) Timothy Snyder beschließt seine Vorlesungsreihe mit der Verbeugung vor einem Lied, das seinen Weg als Weihnachtschoral nach Amerika gefunden hat (als „Carol of the Bells„), tatsächlich aber ein Zeugnis der reichen ukrainischen Kultur und ein sehr altes ukrainisches Volkslied aus vorchristlicher Zeit ist, eine Ode an den Frühling: „Shchedryk„. 1916 wurde es von dem ukrainischen Komponisten Mykola Leontovych in seine heutige Form gebracht (Leontovych wurde 1921 von einem Tscheka-Agenten ausgeraubt und ermordet). Es ist ein sehr schöner, hoffnungsvoller Abschluss der Reihe, dem wir uns gerne anschließen möchten. Es singt der Bel Canto Choir Vilnius in einer Aufnahme von November 2010.
Exkurs: Der Krieg in der Ukraine und die Frage des Genozids
Rede an der Boston University vom 26. 10. 2022
Timothy Snyder hat am 26. 10. 2022 anlässlich der Einweihungsfeierlichkeiten des neu eingerichteten Studiengangs „Holocaust, Genozid und Menschenrechte“ an der Universität Boston eine Rede zum Thema „Der Krieg in der Ukraine und die Frage des Genozids“ gehalten, in der er sich mit dem genozidalen Charakter des Kriegs in Ukraine auseinandersetzt und mit der Frage, warum dies in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und diskutiert wird. Ich habe diese m.E. sehr wichtige Rede transkribiert und übersetzt.
Download Transkript: The War in Ukraine and the Question of Genocide
Download der deutschen Übersetzung: Der Krieg in der Ukraine und die Frage des Genozids
Eines der Zitate, mit denen Snyder die Rede beginnt, stammt aus einem interview eines Donezker Warlord, Pavel Gubarev (der sich im März 2014 selbst zum „Volksgouverneur“ der „Volksrepublik Donezk“ ausgerufen hatte) aus dem russischen Fernsehen, das Sie hier sehen können.